„Halt einfach deine Fresse“, sage ich zu mir und stehe kurz vor der Selbstverletzung

***Triggerwarnung***

Ich bin einfach ein zu offener Mensch. Ich kann nicht lügen. Selbst wenn ich es mir vornehme, ich kann nicht dabei bleiben. Pflegerin Frau V. fragt gerade Pfleger Herrn R., ob er die Schwimmpflanzen aus dem Aquarium gefischt hat und ich höre mich sagen, dass das wohl Pflegerin Frau F. war und schon ziehe ich mir gedanklich einen Holzprügel über den Kopf und denke nur „scheiße! Halt einfach mal deine Fresse!“ und schon dreht sich Herr R. um und läuft demonstrativ pfeifend weg, wirft den Kopf etwas nach oben, einfach weil ich es gesagt habe und er seine Unschuld zur Schau stellt. Es kam einfach so über mich das zu sagen, weil es zum Wohl der Fische ist. Jetzt bereue ich das. Nicht der Fische, aber der verfluchten Aufrichtigkeit wegen. Bin hoch auf mein Zimmer und platze schier unter diesem immensen Schneidedruck!!! Seit zwei Tagen hecheln die Fische wie verrückt und ich kann einfach nicht dabei zusehen, wie sie wegsterben, nur weil sich außer Frau V. niemand mit dem Aquarium auseinandersetzt.

Eben kam der Pflegeschüler vorbei und fragt „alles okay?“, aber es ist dieses Gefloskel, dieses normale „geht’s dir gut?“, weil er die Aufgabe bekommen hat durch die Zimmer zu gehen und es ist eine der Fragen, auf die niemand eine aufrichtige Antwort will, sondern eine die halt passt. Angespannt sage ich „nee, ist aber egal“, weil er mir eh nicht helfen wird und weil vermutlich auch sonst niemand zu mir hochkommen werden wird und weil ich aus eigenem Antrieb nicht um Hilfe bitten darf. Seine Antwort zu mir lautet „wenn Sie was brauchen kommen Sie runter“ und ich sage resignierend, dass ich es versuche. Er hält es wohl für einen Spaß und meint, dass wir leider keinen Aufzug hätten, sonst wäre es leichter und lacht dann, während ich nur stumm zur Seite schaue, weil ich mit Scherzen jetzt nicht umgehen kann. Mehr als die Schwäche, die ich heute schon gezeigt habe, kann ich nicht nach außen tragen. Ich implodiere beinahe! Kann mich aber kaum bewegen, wegen der Schmerzen! Ich will um Hilfe bitten und kann es nicht. Nicht jeder darf jetzt nahe sein und viele stoße ich einfach weg. Ich hätte jetzt gerne Alkohol.

Vor meinem inneren Auge sitze ich im Bad in der Dusche, baue einen Rasierer auseinander und ziehe mir die Klinge mal langsam und mal schnell durch die Haut. Spüre das warme, pulsierende Ausströmen des Blutes. Es würde mich beruhigen. So vieles erleichtern! Nur kurzfristig… aber offengestanden schrecken mich langfristige Folgen wie „neue Narben“ nicht mehr ab. Wie egal ist es doch, ob dort einige mehr oder weniger sind, wo eh kein Fleck gesunder Haut mehr zurückgeblieben ist.

Ja, ich hätte gerne gesagt „nein, mir geht es gar nicht gut, ich habe Schneidedruck und mein Leben wächst mir über den Kopf“, und vor allem „ich hab keine Kraft mehr“, oder ein „bitte, bitte helfen Sie mir“, aber in meiner Verzweiflung und dem inneren Druck, werde ich nur schroff und unnahbar und hart. Ich sehne mich danach, dass jemand hinter diese harte Schale blickt und meine Bezugspflegerin würde mir jetzt beistehen, aber sie ist heute nicht da. Innerlich weine und schreie ich. Aber mir wurde heute schon einmal gesagt ich solle „nicht schon wieder gleich losweinen“ von der Stationsleitung und ich fühle mich ausgebremst, wo doch meine Psychologin sagte ich solle Gefühle zu lassen. Entscheidet euch, ich kann nicht beides gleichzeitig für euch tun!

In mir: unbändiger Selbsthass. Ich tauge zu nichts. Gleich ist zudem noch Therapiebesprechung und wahrscheinlich werden sie alle über mich klagen müssen. Ich denke, dass ich gehasst werde und ich überlege, ob ich den Aufenthalt hier nicht doch abbrechen sollte. Es ist wieder dieses „ganz oder gar nicht“. Dieses „alles oder nichts“. Es ist dieser Lebensschmerz und die Sehnsucht danach, nicht hätte leben zu müssen. Das Gefühl, dass alles zu viel ist, dass mir alles über den Kopf wächst. Ich empfinde sogar das Gefühl heim zu wollen, weil ich da eh niemanden mehr enttäuschen kann und weil ich da trinken und fressen und kotzen kann und weil ich da meine Raten an den Tod weiter abbezahlen kann. Stück für Stück, bis ich dann endlich weg bin.

Heute habe ich das erste Mal das Gefühl, dass ich dem Schneidedruck nach all den Monaten nachgeben werde. Mein Limit ist erreicht. Es ist schwer – zu schwer! Ich kann nicht mehr. Und das Empfinden, das ich fühle, wie ich den Gedanken an das Schneiden innerlich absegne, ist aufgeregt und leicht. So leicht!

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